Freitag, 6. Januar 2012

Leseprobe

1. DER REGENMACHER

Zuerst war überhaupt nichts zusehen. Der Himmel lag da, still und wortlos und der nur mäßige Wind trieb die wenigen weißen Hoffnungsträger langsam davon.
Mit einem skeptischen Gesichtsausdruck beobachtete Holmer Brunswick dieses nicht gerade mitreißende Schauspiel. War er einem weiteren Scharlatan ins Netz gegangen?
Er schürzte nachdenklich die Lippen, die von einem weißen, aber kurzgehaltenen Vollbart umrandet waren, während das Licht der Abendsonne einen leicht orangen Schimmer auf seine Halbglatze legte. Sie brauchten den Regen, koste es, was es wolle und die zahlreichen Opfer im Namen des großen Aquatos entbehrten in letzter Zeit jeglicher Wirkung.
Hatte sie der eine Gott wohlmöglich verlassen?
Umzingelt von den anderen Mitgliedern der überschaubaren Dorfgemeinschaft, deren Vorsteher er war, suchte er nicht den Augenkontakt mit diesen, sondern ließ seine blaue Iris unaufhörlich auf den Himmel gerichtet, als könnte er selbst dieses Wunder bewirken, dass sie alle erwarteten.
So verharrten sie eine ganze Zeit und mit jedem weiteren Moment der verstrich, wurde sich Brunswick der wachsenden Ungeduld seiner Anhänger Gewahr.
Für einen Augenblick senkte er die Lider in der Gewissheit hereingelegt worden zu sein, als ein kaum vertrauter Duft in seine Nase stieg. Das recht kurze und kompakte Riechorgan rümpfend, öffnete er die Augen und erkannte, dass sich der Himmel endlich veränderte.
Der Geruch des bevorstehenden Regens erfüllte die Luft und hoch über ihnen türmten sich die flauschigen Häufchen zu dunklen Bergen auf, die ihre kostbare Fracht alsbald abwerfen würden.
„Holt Fässer!“ befahl Brunswick und die Menge löste sich aus ihrer fassungslosen Starre und stob auseinander: „Holt Fässer, Eimer, Töpfe…alles was ihr finden könnt! Der eine Gott schenkt uns Regen.“
Es blieb den Mitgliedern der Dorfgemeinschaft nicht viel Zeit, denn solange es auch gebraucht hatte, bis sich die kümmerlichen Wolken zu solchen Gewitterbergen zusammengefunden hatten, so plötzlich brach das Unwetter nun über sie herein.
Begleitet von einigen Blitzen, die sich jedoch hoch oben in der himmlischen Sphäre entluden und deren donnernden Genossen, prasselte ein nicht enden wollender Strom auf das Dorf hernieder.
Brunswick selbst legte Hand an, als es darum ging das große Wassernetz aufzuspannen.
Unter vereinten Kräften zogen sie ein gut zehn mal zehn Meter messendes Tuch über ein dafür aufgebautes Gestell. Der Regen sammelte sich in dessen Mitte, wo ein kleiner Abfluss vorgesehen war, der das Wasser direkt in eine unterirdische Zisterne leitete, die Brunswicks Urgroßvater einst angelegt hatte. Die Wassermassen entwickelten erstaunliches Gewicht und die kräftigen Männer hatten große Mühe das Tuch an den regendurchtränkten Tauen straffzuhalten.
Als der Schauer etwa eine Stunde nach seinem Beginn wieder nachließ, waren die Speicher zu einem zufrieden stellenden Maße gefüllt.
Im Zuge des letzten Nieselregens übergab der Vorsteher sein Tau an einen der jüngeren Männer und nahm den Weg zu seinem Heim auf sich, um sich dort in trockene Kleider zu hüllen. Mittlerweile hatte sich die Sonne hinter den Horizont zurückgezogen und nur die Lampen, in denen ein Sud aus verschiedenen Steppengräsern verbrannte, erhellten das Dorf durch die diffusen Schleier des nachlassenden Regens. Es war langsam Zeit zur Ruhe zu kommen. Darüber hinaus war er in einem stattlichen Alter und durfte die Gefahr einer Unterkühlung nicht unterschätzen, auch wenn er sich, allen anderen gegenüber, eine derartige Schwäche nie eingestehen würde.
Das Haus seiner Familie war das größte im Dorf. Im Gegensatz zu den meisten bestand es sogar zu einem großen Teil aus dem wertvollen Holz, welches ansonsten nur sehr begrenzt als Baustoff Anwendung fand. Diesen Zustand verdankte es besonders der Tatsache, dass es nun schon über einhundert fünfzig Jahre alt war. Damals war einer von Brunswicks Vorfahren in dieses Gebiet gekommen und hatte wohl noch eine stattliche Anzahl an Bäumen vorgefunden. Die Räume zwischen den hölzernen Balken waren mit lehmgefüllten Lein- oder Steppengrassäcken ausgekleidet, die, sofern sie einmal getrocknet und mit Öl behandelt wurden, hart wie Stein waren und auch einem plötzlich Wolkenbruch standhielten.
Endlich erreichte er den Eingang des Flachbaus und umfasste den Türknauf, als eine dünne, hochgewachsene Gestalt zu seiner Linken auftauchte. Der Mann überragte ihn um zwei Haupteslängen, sodass sein spitzförmiges Gesicht nun von oben auf ihn herabblickte.
Seine Augen, beinahe rund, von gelblicher Farbe und nicht besonders groß, schauten unter der eng anliegenden Kapuze hervor, die sein Haupt bedeckte.
Brunswick erschrak zwar auf Grund des plötzlichen Auftauchens des Mannes, doch dann verzog sich sein Mund zu einem Lächeln: „Kommt herein, Koharim…“
Er öffnete die Tür und wartete bis sich der Gast unter dem niedrigen Türbogen hindurchgeduckt hatte. Dann, sich abschließend zu allen Seiten umblickend, trat er selbst ein und schloss die Tür.

„Es freut mich, dass ihr mich erneut aufsucht, Koharim…“ sagte der Dorfvorsteher und ließ sich von einer, im Vergleich zu ihm beinahe jugendlichen Schönheit ein Tuch zum trockenen reichen. Es war nicht unüblich, dass ein Mann, der in der Lage war mehrere Frauen zu ernähren, neben einer Hauptfrau auch die eine oder andere Nebenfrau besaß, die jedoch alle zusammen mit ihm in einem Haus wohnten. In der beschwerlichen Zeit, in welcher sie lebten, konnte ein Mann nicht genügend Erben hervorbringen.
Der Alte rieb sich das Gesicht und die verbliebenen Haare auf seinem Haupt trocken und deutete ihm, mit rotgefärbten Gesicht, seinen sandfarbenen Mantel abzulegen.
Argwöhnisch beäugte er das Weib und zögerte, bis sich dieses, auf einen Wink des alten Brunswick, entfernte.
Als erstes streifte er die Kapuze von seinem Kopf und befreite sein tiefbraunes Kopfhaar, welches an einigen Stellen mehr der Gestalt eines Federkleides ähnelte. Diese Köperbedeckung lief seinen Nacken hinunter und spaltete sich dann in drei Adern auf.
Zwei verteilten sich auf die Unterseiten seiner beiden Arme, während eine dem Lauf seiner Wirbelsäule folgte und dort, in Höhe seiner Schulterblätter versiegte.
Es tat gut den dichten Mantel abzulegen und einen Moment stellten sich die Federn auf seinen Armen auf, als höben sie sich im Rhythmus seines sich entfaltenden Atems.
Er nahm am Tisch seines Gastgebers Platz, der in einem geräumigen, fensterlosen Kellerraum stand, welcher auch in den Tagen der sengenden Hitze angenehme Kühle aufweisen musste und verschränkte die Arme vor dem geknöpften Wams, welches er über einem hellbraunen Wollhemd trug.
Seine schwarz umrahmten Augen fixierten den weißhaarigen Mann in seinen durchnässten Kleidern, während sich dieser einen Schluck rötlicher Flüssigkeit einschenkte.
„Darf ich euch etwas anbieten…“ hinterfragte er profan, doch Koharim schüttelte den Kopf. Die Geste wirkte jedoch weniger beiläufig, als einstudiert und daher merkwürdig fremdartig.
Dies fiel sogar ihm selbst auf.
Das rötliche Gesöff war eine Mischung aus verdünntem Steppenrattenblut und dem Extrakt der Sandknolle, die dem Blut den bitteren Beigeschmack nahm. Die hundgroßen Steppenratten kamen nahezu überall in großer Zahl vor und variierten dabei erheblich in Form und Größe. Am Rande der Grenze zum Land der Veränderten sollte es sogar Exemplare geben, die gut und gerne das Schultermaß eines ausgewachsenen Pferdes erreichten.
„Ihr seid ein großer Schamane, Koharim…“ prostete ihm der Alte zu und lachte beherzt: „Ich dachte schon, ich wäre einem Hochstapler zum Opfer gefallen, aber ihr habt nicht zu viel versprochen.“
„Ich halte meine Versprechen…“ erwiderte er ziemlich lakonisch und wurde langsam ungeduldig. Er wollte noch in dieser Nacht weiterziehen, gegen den Wind, der neue Wolken herantrug.
„Und ihr tut gut daran…“ sagte der Alte und deutete eine scherzhafte Drohung an, die Koharim unmöglich ernst nehmen konnte: „Ihr habt mir die Treue der Dorfgemeinschaft gesichert. Unser Wasserspeicher dürfte für mehr als drei Monate gefüllt sein. Wir sind versorgt und nicht auf die teuren Wasserlieferungen des Großkönigs angewiesen. Das spart uns eine Menge Geld…“
Koharim erwiderte erstmals das Lächeln des Alten, denn endlich schien ihr Gespräch auf das Richtige hinaus zu laufen. Natürlich hatte er dem kleinen Dorf mit diesem üppigen Schauer zu einem bedeutenden Reichtum verholfen. Das Wasser, welches den Kleidern des alten Vorstehers anhaftete war mehr wert, als der Schmuck, den dieser um den Hals und an den Fingern trug.
Davon sollte er zweifellos profitieren dürfen.
Endlich griff der Alte unter den Tisch und holte ein verheißungsvolles Säckchen hervor, welches er, diesmal wortlos, auf dem Tisch ablegte. Noch löste er jedoch nicht seine Hand von dem prall gefüllten Beutel.
„Bevor ich euch auszahle, Schamane…“ er horchte auf, doch eigentlich wusste er längst, welches Angebot ihm der Vorsteher unterbreiten wollte. Die Gier schien allen Menschen inne, auch wenn sie ansonsten so einen frommen und selbstlosen Eindruck erweckten: „Was haltet ihr davon, noch ein paar Wochen mein Gast zu sein? Ihr werdet zu essen bekommen, ein weiches Bett,… vielleicht lässt sich sogar eine Hure auftreiben, die sich nicht von eurem Federschmuck abschrecken lässt. Nur müsst ihr im Gegenzug ein weiteres Mal für Regen sorgen.“
„Ich danke euch für eurer Angebot, Brunswick…“ ignorierte er die letzte Bemerkung, erhob sich und formulierte höflich: „aber ich genieße meine Freiheit…“
„Na schön…“ ließ der Alte nach und warf ihm das Säckchen herüber, welches er gekonnt auffing: „Dann lasst mich euch noch einen Vorschuss gewähren, damit ihr einen Grund habt wiederzukommen.“ Es brauchte nur einen weiteren Wink des Weißhaarigen und eine andere Frau, sie war nur unwesentlich älter als die letzte, brachte einen gefüllten Lederschlauch, der oben fest verkorkt war: „Nehmt noch etwas von dem Wasser, dass ihr uns beschert habt…“
„Ich danke euch…“ nahm der Vogelmann das kleine Reservoir an sich und begab sich zur Tür. Der Alte wollte sich gerade erheben, als er ihm deutete sitzen zu bleiben: „Lasst nur, Brunswick. Ich finde hinaus…“ dann, sich umwendend, fügte er hinzu: „Ihr seid ein frommer Mann und ein guter Vorsteher. Lasst euch nicht dazu herab, mir solche gotteslästerlichen Angebote zu unterbreiten.“
Danach stieg er die Stufen zum Ausgang hinauf und verließ das Dorf in Richtung Westen.